Kleine intime Insel im Alltag

221117PC Kleine intime Insel im Alltag. Mensch Mahler am 17.11.2022 

Um viertel vor 10 abends brach die Unruhe aus in unserem Studentenwohnheim in Hamburg. Viele junge Männer huschten über die Flure, wollten möglichst nicht gesehen werden. Einige waren schon seit 30 Minuten unterwegs, weil sie den Apparat im Foyer nutzen wollten. Andere machten sich auf, um die Einrichtung, die sie heimlich ausgespäht hatten, kurz vor 22 Uhr zu erreichen. Dieses Schauspiel wiederholte sich Abend für Abend. Des Rätsels Lösung heißt Mondscheintarif. In vorsintflutlichen Zeiten, als man an so etwas wie Mobiltelefone nicht einmal zu denken wagte, gab es Telefonzellen. In meinem Fall schreiben wir die Jahre 1975 bis 1977. Ich hatte mein Studium in Hamburg aufgenommen, meine Liebste ließ sich in einer Kleinstadt im südlichen Schwarzwald zur Krankenschwester ausbilden. 1 ½ Jahre waren wir durch 700 Kilometer getrennt. Freitagnachts mit der Bahn ins Wochenende, Sonntagnacht wieder zurück. Aber nur dann, wenn meine Verlobte keinen Wochenenddienst schob. Im stinknormalen Zugabteil, Schlafwagen konnten wir uns nicht leisten. 

Und gab es sie noch: die Telefonzelle. Eng und übelriechend. Man durfte drinnen auf knapp einem Quadratmeter rauchen. Und so mancher Betrunkene freute sich über die Gelegenheit, aus dem Telefonhäuschen ein Klohäuschen zu machen. Wenn man also um 22 Uhr das Glück hatte, erster zu sein, um den verbilligten Tarif nutzen zu können, dann begann man zwei Minuten früher zu wählen. Um 22 Uhr und danach war erst mal kein Durchkommen mehr. Einmal die Woche 5 Mark hatte ich zur Verfügung. Die reichten für knapp 10 Minuten. Das stinkende Häuschen verwandelte sich in ein Liebesnest. Oder eine Therapie-Praxis. Je nach dem. Wenn die Zeit um war, hatte man gefühlt noch gar nichts gesagt. 

Jetzt werden die letzten 12.000 Telefonhäuschen abgebaut. Da verschwindet nicht nur ein Stück Kulturgeschichte, sondern für uns auch ein Stück unserer Liebesgeschichte. Manchmal denke ich, dass dieses konzentrierte Gespräch mehr Qualität hatte als das ewige Handy-Gelaber. 

  



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